#TrotzAlledem
Corona und autoritärem Staat trotzen: Solidarität und Freiheit in der Krise
Um die Epidemie einzudämmen, bedient sich der Staat repressiver Mittel, schränkt Grundrechte ein und weitet seine Kontrolle aus.
Wir fordern die sofortige Rücknahme aller repressiven Maßnahmen und die Wiedereinführung grundrechtlich verbriefter Freiheiten! Uns scheint offensichtlich: der Staat kann nicht die Lösung für die Krise sein! Wir rufen alle Menschen zu Solidarität und Verantwortungsübernahme auf! Nehmt eure Angelegenheiten selbst in die Hand, bildet Netzwerke und unterstützt einander! Seid sichtbar auf den Straßen!
Der Zustand der Krise
Die weltweite Entwicklung hin zu autoritäreren Nationalstaaten wird gerade jetzt während der Corona-Pandemie erneut stärker spürbar. Als Antwort auf die Ausbreitung des Covid-19-Virus wurde ein weltweiter Krisen-Zustand ausgerufen, unter dem allerlei Freiheiten eingeschränkt und abgebaut werden – selbstverständlich unter dem konsensfähigen Vorwand, die Ausbreitung des Virus zu verhindern und so im Interesse der Gesundheit aller Menschen zu handeln.
Diese Krise kann nicht unabhängig vom Kapitalismus gedacht werden: Allein in Deutschland sind Millionen Lohnabhängige von Kurzarbeit und Prekarisierte von Arbeitsplatzverlust bedroht, und für Marginalisierte eskalierendie Lebensumstände auf eine neue Weise. Die meisten staatlichen Maßnahmen zur Rettung dienen dabei aber nicht den Menschen, sondern der Erhaltung der ausbeuterischen Wirtschaft. Da wird dann darüber gesprochen, ob Hartz 4 um 100€ angehoben wird, während Milliardenhilfen für Unternehmen beschlossene Sache sind. Die Menschen, die nicht „systemrelevant“ oder gerade für den Erhalt der Produktion schuften, einzuschließen, vor allem, wenn sie sich freiwillig einschließen lassen, ist aber günstig. So kann niemand sagen, die Regierung hätte nichts getan; der Beliebtheitsgrad der Minister*innen schießt in die Höhe.
Die meisten Menschen scheinen auf ein Ende der Krise zu warten, und darauf, dass „alles wieder wie vorher“ wird. Aber nach Covid-19 ist vor Covid-20. Der nächste Anlass, die repressiven Maßnahmen, die jetzt erprobt werden, wieder auszupacken, kommt bestimmt. Wenn der Staat sie überhaupt wieder wegpackt.
Der kapitalistisch-nationalistische Normalzustand
Warum sollten wir überhaupt wollen, dass alles so wird wie vorher? Waren wir vergangenes Jahr unheimlich glücklich? War da etwa alles ok?
Endlich wieder Arbeit zum Mindestlohn, wobei nach all der Ausbeutung kaum Kraft und Zeit für Erfüllendes bleibt; immerhin sind die Läden geöffnet und das Geld kann ausgegeben werden. Oder warten auf den Monats-Ersten, um zu sehen, ob‘s nach all dem Generve nun doch endlich Geld vom Amt gibt? Und die Alten, um die sich medial so viele Sorgen gemacht wird, wurden die nicht schon seit Jahrzehnten zunehmend ins gesellschaftliche Abseits abgeschoben, damit sich unterbezahlte Migrant*innen um ihre Versorgung kümmern und wir vergessen können, was uns nach der „gesellschaftlich-nützlichen“ Phase unseres Lebens droht? Was ist mit den Tausenden von Menschen hinter Knast- und Psychiatriemauern, wollen wir weiterhin so tun als sei das sinnvoll? Ist es vertretbar, dass manche Menschen davon leben, dass sie Wohnungen vermieten oder sogar leerstehen lassen, während andere auf der Straße leben?
Währenddessen ertrinken Tausende namenlose Menschen auf der Flucht im idyllischen Mittelmeer und wenn sie es doch übers Wasser geschafft haben, sitzen sie ihre Zeit – getrennt von ihren Liebsten, aber dafür mit vielen anderen Fremden zusammen – elendig und eingepfercht in einem Lager ab, irgendwo dort, wo du und ich sonst auch mal Urlaub machen. Und der deutsche Staat, bei dem sich gerade alle so gut aufgehoben fühlen, zahlt Milliarden dafür, diesen Menschen kein Leben hier ermöglichen zu müssen. Dafür ist auch die Kooperation mit klerikal-faschistischen Regierungen recht, und man drückt auch bei sich im Lande mal ein Auge zu:
Denn diese Lager, in denen Menschen ohne Möglichkeit, sich vor Corona zu schützen, jetzt eingesperrt sind, werden angegriffen und angezündet, auch hier und jetzt. Und immer wieder ermorden Faschisten und FaschistinnenMenschen, die nicht in ihr Weltbild passen. So zuletzt auch Arkan Hussein Khalaf am 07. April in Celle. Die Namen der Ermordeten werden oft vergessen, ihre Mörder häufig als verwirrte Einzeltäter dargestellt. Anfang diesen Jahres zählte die Amadeu-Antonio-Stiftung 208 Todesopfer rechter Gewalt und mindestens 13 weitere Verdachtsfälleseit der Wiedervereinigung. Das alles sind keine Einzelfälle und die Täter haben Netzwerke, die sie unterstützen und decken, nicht zuletzt auch innerhalb der staatlichen Behörden:Der Mord deutscher Polizisten an Oury Jalloh, der am 07. Januar 2005 im Polizeirevier von Dessau verbrannte, die seit Jahrzehnten andauernde Vertuschung dieser Tat, sowie die Morde des NSU an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, die zwischen 2000 und 2006 unter Deckung durch den Verfassungsschutz stattfanden, zeigen beispielhaft die kontinuierliche Beteiligung staatlicher Institutionen.
Die Abschaffung von Freiheiten
Die am stärksten propagierte Maßnahme zur Pandemie-Bekämpfung ist der „soziale Abstand“. In geschlossenen Einrichtungen und stationären Unterbringungen wie Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Lagern, und Knästen wurden Besuchsmöglichkeiten zuerst auf ein sogenanntes „menschenwürdiges Mindestmaß“ eingeschränkt und dann komplett abgeschafft. Ausgleichsangebote, z.B. durch den Ausbau des Telefon- oder Videotelefonie-Angebots, wurden für die Gefangenen nicht flächendeckend geschaffen. Statt den Großteil der Inhaftierten einfach zu entlassen, wurden sie zusätzlich bestraft. Auf mehreren Kontinenten gab es bereits Knastaufstände wegen der verschärften Haftbedingungen. In Köln-Ossendorf trat zwischenzeitlich die gefangene Anarchistin Hülya in den Hungerstreik, um gegen die Restriktionen Widerstand zu leisten. In einigen deutschen Gefängnissen werden Gefangene gezwungen, Schutzmasken herzustellen – nicht für sich, sondern für ihre Bewacher*innen, andere staatliche Organe und den Gesundheitssektor. Die Gesundheitsversorgung und Hygiene in Knästen ist miserabel bis nicht vorhanden, und während andere für das Masken-Nähen bejubelt werden, bekommen Inhaftierte weder Mindestlohn, noch sind sie sozialversichert.
Auch außerhalb dieser Orte wird die soziale Distanz propagiert – teilweise auf Anordnung der Ministerien in Form von Allgemeinverfügungen, aber auch freigewählt, sichtbar in den sozialen Medien unter dem Hashtag #stay(thefuckat)home.
Ein verantwortungsvoller Umgang mit Hygiene-Maßnahmen und das ausgewählte Abstandhalten sind effektive Maßnahmen, um einer Ansteckung und damit auch der Ausbreitung des Virus vorzubeugen. Dabei wurde aber schon oft und an vielen Orten darauf hingewiesen, dass ein solches Vorgehen nicht allen gleichermaßen möglich ist und bestehende Probleme, wie psychische Krankheiten oder häusliche Gewalt, verstärkt werden.
Darüber hinaus wird es aber besonders problematisch, wenn Teile der Exekutive das Prinzip der Gewaltenteilung ignorieren und sich als politische Akteure inszenieren. Ministerien erlassen Verfügungen und stellen Polizist*innen dann die konkrete Auslegung nach ihrem Ermessen frei. Das sind Kriterien eines Polizeistaats, wie sie im Buch stehen!
Durch die erlassenen Allgemeinverfügungen werden neue Möglichkeiten der Gesetzesübertretung definiert und vor allem die private Freizügigkeit reguliert. Mal ganz davon abgesehen, dass viele Menschen Grund haben, Polizist*innen konsequent aus dem Weg gehen zu wollen, weil sie überdurchschnittlich oft Gewalttäter*innen, Rassist*innen und Sexist*innen sind und wissen, dass sie Narrenfreiheit genießen, müssen wir ihnen jetzt Tag und Nacht, in der Öffentlichkeit und im Privaten, Auskunft geben über unsere „triftigen Beweggründe“, nicht zu Hause und nicht allein zu sein.
Soziale Fragen, autoritäre Antworten
Der Imperativ vom Zuhausebleiben sieht die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus bei den einzelnen Gefährder*innen – also bei denen, die nicht zu Hause bleiben oder sich sozial isolieren wollen oder können. Das sind vor allem Menschen, die keine Wohnung haben oder solche, die zusammengepfercht mit anderen auf engstem Raum eingesperrt sind. Soziale Isolation ist aber auch für Menschen, die unentlohnte Sorge-Arbeit leisten müssen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, und solche, für die soziale Isolation zu schwerwiegenden emotionalen Krisen führen kann, unmöglich oder gefährlich. Betroffen sind davon strukturell vor allem Frauen, und die letzten beiden Situationen enden mitunter tödlich. Hier zeigt sich, dass die Forderung nach Distanz schnell strukturelle Benachteiligung durch gesellschaftlichen und individuellenKlassismus, Rassismus und Sexismus ausblendet und wenig mit praktischer Solidarität zu tun hat.
Die Akzeptanz autoritärer Maßnahmen in der Bevölkerung ist offensichtlich. Laut einer Umfrage hat die Hälfte aller Deutschen – unklar bleibt, wer genau mit dieser Definition gemeint ist – nichts gegen eine Ortung des Handys als Schutzmaßnahme gegen Corona einzuwenden. Viele Bürger*innen fühlen sich auch dazu angehalten, vermeintliche Corona-Gefährder*innen bei den Ordnungsbehörden zu verpfeifen oder ihnen selbst Einhalt zu gebieten. So wurde vor Kurzem in Leipzig ein Fall bekannt, bei dem ein Mann, der sich zuvor als Polizist ausgab, mit Reizgas auf drei Menschen geschossen hatte, die angeblich untereinander keinen Sicherheitsabstand eingehalten hatten.
Die Ordnungsbehörden berichten auch wiederholt von ihrem wichtigen Job, sogenannte „Corona-Partys“ aufzuspüren und zu unterbinden. Bei diesen und anderen Kontrollen ist festzustellen, dass die Polizei weder einen Mindestabstand einhält, noch Infektionsschutzausrüstung einsetzt und so selbst zur Gefahr für alle Anwesenden wird. Mitte März machten Polizei und Rettungskräfte auf sich aufmerksam, als sie in Dresden eine Diskothek mieteten, um dort eine große Blaulicht-Party zu veranstalten. Die Party wurde im Voraus beim Gesundheitsamt angezeigt und dort untersagt – gefeiert wurde trotzdem.
In den vergangenen Wochen haben Menschen überall im Land versucht, soziale Probleme zu benennen und anzugehen, meistens mit dem Ergebnis, dass die Polizei Versammlungen aufgelöst und die Teilnahme daran bestraft hat, unabhängig davon, ob Sicherheitsabstand gehalten und Vorkehrungen getroffen wurden. Demonstrationen gegen die menschenverachtende Abschottungspolitik z.B. wurden verboten und auch von Gerichten als „nicht notwendig“ bewertet. Wir weigern uns, staatliche Institutionen über die Notwendigkeit unseres Gebrauchs der im Grundgesetz verankerten Versammlungsfreiheit entscheiden zu lassen!
In der Auseinandersetzung um die Richtigkeit der Krisen-Maßnahmen herrscht die Annahme vor, dass alle Arten von Maßnahmen objektiv richtig und geboten seien, und der Staat sie nur konkret ausgestaltet. Dabei wird nicht beachtet, dass die Krise vom Kapitalismus selbst hervorgebracht wird – durch die absolute Hintansetzung menschlicher Bedürfnisse gegenüber wirtschaftlichen Interessen, denen auch die gesamte Umwelt, als vermeintlich bodenlose Quelle an verwertbaren Ressourcen, geopfert wird. Und auch nicht, dass das, was überhaupt als „Krise“ verhandelt wird, vom Staat festgelegt wird. Wenn dieser zugunsten des Systems autoritäre Antworten auf soziale Fragen gibt, dann ist es an uns, diese abzulehnen! Der Staat ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems.
Solidarität statt Ausnahmezustand
Wir meinen, dass Solidarität etwas anderes ist, als zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. Für uns bedeutet Solidarität gegenseitige Verantwortungsübernahme, das Eintreten füreinander und Zusammenhalt auch über die eigene Lebensrealität hinaus. Solidarität erfordert aktives Handeln und mitunter auch Schritte, die uns ungewohnt erscheinen. Als Resultat der Auseinandersetzung mit der Pandemie und dem Ausnahmezustand haben sich bereits viele solidarische Menschen in Netzwerke und Strukturen zusammengefunden. Nachbarschafts- und Stadtteilvernetzungen teilen Ressourcen und helfen sich gegenseitig aus. Mehrere symbolische Besetzungen fordern sicheres Obdach für Bedürftige ein; ein mögliches Ziel praktischer Solidarität wäre auch hier, Strukturen zu schaffen, die ohne das staatliche Eingreifen zum Ziel führen. Leerstehende Hotels und Ferienwohnungen, die umfunktioniert werden könnten zu Frauenhäusern, dezentralen Unterkünften für Asylbewerber*innen und Menschen ohne Obdach, gibt es in jeder Stadt.
Wir wollen eine freie und solidarische Gesellschaft für alle, auch in Krisenzeiten. Gerade jetzt im Hinblick auf den 1. Mai – einem Tag, der historisch für das Aufbegehren der Arbeiter*innenklasse gegen ihre Ausbeutung steht – ist es uns dringlich, unserem Anliegen Ausdruck zu verleihen. Politische Versammlungen im öffentlichen Raum halten wir dabei für legitim und notwendig und nicht für verantwortungslos oder gefährlich. Weshalb soll das Demonstrieren unter freiem Himmel gefährlicher sein als das Schuften in der Lagerhalle oder das Einkaufen im Supermarkt? Masken können wir dabei genauso tragen. Wenn die Polizei den Veranstaltungen fernbleibt, können wir den Mindestabstand zueinander auch einhalten.
Mit unserer Kampagne wollen wir der Krise zum Trotz die Rahmenbedingungen schaffen, gemeinsam, sichtbar und konsequent für unsere Forderungen eintreten zu können. Verantwortung tragen – nicht nur für die Gesundheit all unserer Mitmenschen, sondern auch für die Welt nach dieser Krise! Für praktische Solidarität statt hohler Phrasen! Corona und autoritärem Staat trotzen!
#TrotzAlledem
im April 2020